Der Artikel war nur ganz klein: In einem Windsurfmagazin erklärte der Amerikaner Tom Sims, wie er eines der ersten Snowboards gebaut hatte. Dazu gab er eine Anleitung, wie man ein Snowboard selbst bauen konnte. «Das will ich auch!», dachte sich Reto Lamm und ging mit seinem Vater zum Schreiner im Dorf. In einer einzigen Nacht bauten die drei das erste Snowboard. Die Anfänge im Tiefschnee waren mühsam, aber der Fünfzehnjährige liess nicht locker. Für die ersten Weltmeisterschaften in St. Moritz schwänzte er die Schule und konnte im Parallelslalom gegen Craig Kelly antreten – eines seiner grossen Idole. Reto entdeckte die Halfpipe und die grossen Sprünge und fiel in der Szene schon bald als junges Freestyle-Talent auf. Zusammen mit dem Norweger Terje Håkonsen wurde er für erste Filmprojekte engagiert. 1994 fand im Skisprungstadion von Innsbruck das erste «Air and Style» statt. Erwartet hatte man für den Wettkampf 500 Zuschauer, aber rund 10'000 kamen. Reto gewann und wurde von den Fans sprichwörtlich überrannt. «Ich bekam es mit der Angst zu tun, floh aus dem Stadion, setzte mich in mein Auto und fuhr direkt nach Hause.» Air and Style zeigte, dass der Freestylesport etwas ganz Grosses werden konnte.

«Freestyle tut den Olympischen Spielen gut»
Reto Lamm

Der Sieg in Innsbruck machte Reto international noch bekannter und ein Jahr später gewann er den Gesamtweltcup in der Halfpipe. «Irgendwann bekam ich einen Anruf aus Japan. Ein Fernsehsender wollte mitten in Tokio einen noch grösseren Event durchführen. Reto reiste nach Japan und legte die Basis für den ersten ”X-Trail Jam Contest” im Baseball-Stadion ”Tokio Dome”. Er sollte mit bis zu 75'000 Fans zum grössten Snowboardevent der Welt werden. Nach dem Ende seiner Karriere als Aktiver blieb Reto dem Sport eng verbunden. Als Veranstalter des X-Trail Jam hatte er die ”Ticket to Ride-Tour” mit aufgebaut, in der die wichtigsten Wettkämpfe der Welt zusammenkamen. Ticket to Ride (TTR) wurde zum unabhängigen Dachverband, den Reto als Präsident leitete. Sogar in China führte er grosse Events durch. Der riesige Publikumserfolg der TTR-Events stiess den etablierten Sportverbänden sauer auf. Der Skiverband FIS und das Olympische Komitee setzten alle Hebel in Bewegung, um den jungen Sport zu übernehmen. «Der allgemeine Snowboardboom ging zurück und für die grossen Events fehlte immer mehr das Geld», erinnert sich Reto Lamm. «Klassische Sponsoren, Städte und Länder verbanden ihre Beiträge nun mit der Forderung, dass die Events mit dem Skiverband durchgeführt werden mussten. Die TTR Tour ging daran zugrunde.» Groll ist bei Reto keiner zu spüren, wenn er über den Untergang ”seiner” TTR Tour spricht. «Es war einfach der Gang der Zeit. Heute profitiert Snowboarding zwar von der Aufmerksamkeit, weil es olympisch ist, aber die Prioritäten der FIS und des IOC liegen bei den anderen Schneesportarten.»

Neben seinem Engagement für die Ticket to Ride Tour begann Reto eine einzigartige Karriere, die ihn eng mit dem Modeunternehmer und Filmer Willy Bogner verbunden hat: Reto lernte Bogner 1991 bei Dreharbeiten im Engadin kennen. Die beiden verstanden sich gut und bald arbeitete Reto vor und hinter der Kamera für Bogner. «Mit Willy verbindet mich eine wunderbare Freundschaft. Beruflich durfte ich ihn in den letzten 30 Jahren bei zahllosen Film- und Marketingprojekten begleiten.» Als ”Global Brand Director” verantwortet Reto Lamm heute die Entwicklung der Marke Bogner. Dazu gehören unter anderem alle eigenen Filmprojekte und auch die jahrzehntealte Zusammenarbeit mit den James Bond Filmen. Snowboarding tue den olympischen Spielen gut, ist Reto Lamm überzeugt. «Beim IOC sind inzwischen Leute am Ruder, die den Wert des Freestyle erkannt haben.» Nach dem
Snowboarding wurden im Sommer Wellenreiten, Skateboarding und BMX und im Winter Skiscross, Slopestyle und Big Air olympisch. «Freestyle erreicht neue Fans, die sich in den klassischen Sportarten nicht wiedererkennen. Unsere TTR Tour bestand nicht aus Wettkämpfen, sondern aus ”Sessions”. Die besten der Welt kamen zusammen, gaben ihr Bestes und zelebrierten ihren Sport. Wenn einer gewann, dann freute er sich nicht über eine Geldprämie, sondern über die Anerkennung der anderen Freestyler.» Ob Freestyle auf dem Snowboard und anderen Sportgeräten es schafft, sich wieder in diese Richtung zu entwickeln, lässt Reto Lamm offen. «Freestyle lebt von seiner Kreativität.
Im Mittelpunkt sollten nicht Punkte und Prämien stehen, sondern das Miteinander in einer grossen Familie. In den rigiden Reglementen von heute ist das nur eingeschränkt möglich.»